Nüchtern betrachtet

Es ist kalt in Berlin. Der Typ in der U7, Hermannplatz Richtung Neukölln, trägt Turnschuhe, Jeans und eine dünne Kapuzenjacke. Keinen Schal, keine Handschuhe. Doch er hat eine Mütze mit Klappohren dran auf. So eine, die auch für den russischen Winter taugt.

Der Typ sitzt allein da, in einer der buntgepolsterten Viererecken. Die Bahn ist am frühen Nachmittag nicht allzu voll. Vornübergebeugt starrt der Mann auf seine Bierflasche. Er dreht sie hin und her in der Hand, hält sie sich direkt vors Gesicht, dann wieder etwas weiter weg. Trinkt aber nicht. Er sieht nachdenklich aus, beinah melancholisch. Schwermütig. So wie es eben ist, in Berlin, im Winter.

Dann stellt der Mann die Flasche plötzlich zur Seite und wühlt in seinen Jackentaschen. Er fördert ein Brillenetui hervor und daraus eine Brille mit Goldrand. Ungeschickt schiebt er sie sich ins Gesicht. Umständlich, wegen der hinderlichen Mützenohren. Mehrfach versucht der Typ, die Dinger nach oben zu klappen. Was aber auf Anhieb nicht gelingen will. Der Vorgang dauert eine ganze Weile.

Schließlich ist es geschafft. Sofort greift sich der Mann wieder die Bierflasche. Um sie nun, mit Lesebrille bewaffnet, endlich eingehend studieren zu können.

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